Ich
finde meinen Stamm
Die Menschen meines
Stammes sind leicht zu erkennen:
Sie gehen aufrecht aus innerer Größe und haben ein Strahlen
in den Augen.
Sie halten sich weder für besser noch erleuchtet.
Sie sind durch ihre eigene Dunkelheit gegangen
und haben ihre Schattendämonen erkannt und angenommen.
Zwar wissen sie wohl, was ihnen angetan wurde
und welche Fehler sie selbst begingen.
Doch haben sie ihre Scham abgelegt und ihre Wut befreit.
Sie haben die alten Ketten gelöst,
indem sie die Nabelschnur durchtrennt und die Vergebung vollbracht
haben.
Weil sie nichts mehr verbergen wollen, sind sie offen und klar
und manchmal herb wie ein Heilkraut.
Weil sie nichts mehr verdrängen müssen, sind sie voll
Energie und Begeisterung fürs Dasein.
Die Menschen meines
Stammes haben das Heilige Feuer wiedergefunden:
Das Feuer der Lebenslust in Bauch und Becken,
die Flamme der Liebe im Herzen und das spirituelle Licht in ihrem
Geist.
Sie kennen die ungezähmte Kraft der Wilden Frau und des Wilden
Mannes in sich
und haben keine Angst davor.
Sie halten nichts für selbstverständlich und würdigen
ihre Mitmenschen durch Dank.
Sie sind nicht leichtgläubig, sie vertrauen ihren Fähigkeiten
und folgen ihrem Herzwissen und Hausverstand,
um ihre eigenen Erfahrungen zu machen.
Sie nützen die Stille und lauschen dem Atem, um sich zu sammeln
und sich wiederzufinden, falls sie sich im Rausch des Lebens verloren
haben.
Die Menschen meines
Stammes sind nicht perfekt,
doch streben sie nach einer Vollkommenheit der Liebe zu allem Lebendigen
und nach Wahrhaftigkeit im Ausdruck.
Wenn sie oder ihre Freunde Fehler machen, sind sie ehrlich und fair
und beginnen von Neuem mit Humor und Vertrauen.
Sie lieben es, zu teilen und sich mitzuteilen, zu geben und zu empfangen.
Sie müssen nicht immer stark sein und können auch eine
Bitte aussprechen.
In Zeiten von Schwäche bewahren sie ihre Selbstachtung
und gehen liebevoll mit sich und anderen um.
Als friedvolle Krieger
kämpfen sie mutig und solidarisch gegen Not und Unrecht.
Sie sind gegen jede Form von Unterdrückung, Rassismus und Gewalt
und verschließen sich nicht vor dem Fremden.
Sie begegnen einander auf Augenhöhe
und achten die Eigenart jedes einzelnen Menschen.
Sie konfrontieren sich ohne Bosheit und lieben ohne Rückhalt.
Mit Herz, Hirn und Hand sorgen sie für das Wohl aller Kinder.
Die Frauen und Männer
meines Stammes verstehen zu genießen.
Sie gehen gern barfuß, haben ein warmes Herz und lieben innig
und leidenschaftlich.
Sie wissen, daß sie einst sterben werden.
Daher sind sie sich bewußt der Kostbarkeit des heutigen Tages
und drücken durch Worte und Berührung aus,
was sie denken und fühlen gegenüber den Menschen, die
ihnen wichtig sind.
Getrennt von ihren Lieben, können sie gut mit sich allein sein
und wissen sich mit allen Wesen der Erde im Kern verwandt.
Trotzdem sehnen sie sich nach dem Stamm
ihrer Seelenschwestern und Seelenbrüder,
so wie ich, Lachender Rabe.
Ich freue mich darauf, Dich (wieder) zu sehen.
Gerhard Lipold
(aus dem Buch ONE EARTH SONGS, Seite
319)
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